Die soziale Klassenzusammensetzung
by
Notes from Below (@NotesFrom_Below)
January 29, 2018
Featured in No Politics Without Inquiry! (#1)
Ein neues Instrument für die »militante Untersuchung« – von Seth Wheeler und Jessica Thorne. Seth Wheeler und Jessica Thorne sind Teil des Kollektivs Notes from Below. Übersetzung von Torsten Bewernitz.
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Die soziale Klassenzusammensetzung
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Notes from Below
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Jan. 29, 2018
in
No Politics Without Inquiry!
(#1)
Ein neues Instrument für die »militante Untersuchung« – von Seth Wheeler und Jessica Thorne. Seth Wheeler und Jessica Thorne sind Teil des Kollektivs Notes from Below. Übersetzung von Torsten Bewernitz.
Ursprünglich veröffentlicht in Express 05/2023.
Die undogmatisch-marxistische Schule des italienischen Operaismus hatte in den 1960er Jahren für ihre conriciercas – wörtlich: Mit-Untersuchungen, im deutschen meist als Arbeiteruntersuchung oder »militante Untersuchung« übersetzt – den Begriff der Klassenzusammensetzung als Analysekategorie geprägt. Die Autorinnen des folgenden Beitrags aus der britischen Notes from Below erläutern das Konzept. Ihnen geht es aber vor allem um eine feministisch orientierte Erweiterung dieser Kategorie, die wir als Redaktion gewinnbringend fanden. Wir haben daher den Beitrag von 2018 auszugsweise ins Deutsche übersetzt.
Warum Klassenzusammensetzung?
Kapitalistische Ausbeutung ist keine abstrakte Idee; sie nimmt immer bestimmte, materielle Formen an. Durch den Klassenkampf verändert sich der Kapitalismus selbst. Er schafft neue Technologien und Arbeitsprozesse. Er bringt die Bewegung von Menschen und Kapital in neue Teile der Welt und die Entwicklung neuer Industrien mit sich. Das Terrain des Klassenkampfes verändert sich zusammen mit der Arbeiterklasse selbst. Wir müssen dieses Terrain analysieren, um herauszufinden, wo das Kapital schwach ist und wo die Arbeiter:innen stark sind. Wo genau ist unsere Macht? Wie können wir angreifen? Dies lässt sich nur im aktiven Klassenkampf selbst herausfinden. Deshalb deckt die Arbeiteruntersuchung nicht nur die sich verändernden Formen der Arbeit auf, sondern auch die sich verändernden Formen des Kampfes.
Die italienischen Operaist:innen hatten einen Ausdruck für das sich verändernde Verhältnis von Arbeit und Kampf: die »Klassenzusammensetzung«. Sie unterteilten diese in zwei Aspekte: Der erste ist die »technische Zusammensetzung«. Dies ist die spezifische materielle Organisationsstruktur der Arbeitskraft in einer Arbeiterklasse durch die sozialen Beziehungen der Arbeit. Sie wird durch Faktoren wie den Einsatz von Technologie, Managementtechniken und die allgemeine Gestaltung des Arbeitsprozesses geprägt. Die zweite ist die »politische Zusammensetzung«, die sich aus der technischen Zusammensetzung ergibt. Es handelt sich um die Selbstorganisation der Arbeiterklasse zu einer Kraft des Klassenkampfes. Dazu gehören Faktoren wie die Taktiken des Arbeiterwiderstands, die Formen der Arbeiter:innen-Organisation und die Auswirkungen des Klassenkampfes in der Politik. Die technische Zusammensetzung bildet die Grundlage für die politische Zusammensetzung, obwohl die Entwicklung von der einen zur anderen nicht mechanisch oder vorhersehbar ist. […]
Die Klassenzusammensetzung bietet einen Rahmen für die Analyse der Ergebnisse der Arbeiteruntersuchung. Durch sie können wir die Arbeit inhaltlich untersuchen und diese Aspekte der Arbeit mit dem Widerstand verbinden. Dazu müssen wir uns auf den Arbeitsprozess konzentrieren und auf das, was Marx »die verborgenen Stätten der Produktion« nannte. […] Meistens können wir nicht sehen, was hinter den verschlossenen Türen vieler Arbeitsplätze geschieht. Die Arbeiteruntersuchung bietet einen Weg in diese »verborgenen Stätten«, hinter denen sich zeigen wird, so Marx, »nicht nur wie das Kapital produziert, sondern auch wie man es selbst produziert, das Kapital. Das Geheimnis der Plusmacherei muss sich endlich enthüllen.« Das Geheimnis, das Marx im »Kapital« lüftet, ist, dass die Arbeit im Kapitalismus Mehrwert produziert. Die Analyse der Klassenzusammensetzung enthüllt ein weiteres Geheimnis: wie die Arbeiter:innen sich selbst in eine politischen Kraft verwandeln.
Marx betont die Bedeutung des Arbeitsprozesses, und es ist nützlich, seine Definition zugrunde zu legen: »Die einfachen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel«. Hinzu kommen verschiedene Beziehungen zur Lohnform, zur Arbeit, zu anderen Arbeiter:innen, zu den Produktionsmitteln und zum Produkt. […]. Anhand dieser Kategorien können wir zwischen verschiedenen Arten von Arbeit und wie diese organisiert ist, unterscheiden. Dies ist die Grundlage der technischen Zusammensetzung.
Allzu oft konzentriert sich die Analyse der Arbeit auf die Details der Arbeit und nicht auf die Erfahrung der Arbeiter:innen. Diese Erfahrungen sind keine Geheimnisse, alle Arbeiter:innen erleben sie jeden Tag. Eine Analyse der Klassenzusammensetzung geht von der technischen Zusammensetzung aus, bleibt aber nicht dort stehen. […] Daher ist es notwendig, sich mit der Analyse der politischen Zusammensetzung zu befassen.
Warum »soziale« Zusammensetzung? […]
Wir sind der Meinung, dass die bisherige Analyse der Klassenzusammensetzung die Arbeiter:innen und ihren Widerstand fast ausschließlich auf den Arbeitsplatz bezogen hat. Doch Arbeiter:innen werden zu einer Klasse gemacht, bevor sie von einem Kapitalisten beschäftigt werden; bevor von ihnen verlangt wird, ihre Zeit zu verkaufen, werden ihre Produktionsmittel enteignet. An diese Bedingung ist eine ganze Reihe von politischen Kämpfen geknüpft, die über den Lohn hinausgehen. Dazu gehören die Kämpfe um die Bedingungen staatlicher Sozialleistungen, um Migration und Grenzen, um Wohnen und Mieten und viele andere Themen. Wir glauben, dass die alleinige Analyse der technischen Zusammensetzung verborgene Stätten jenseits der Arbeit unterschlägt. Wir schlagen daher eine dritte Dimension vor: die soziale Zusammensetzung.
Um diese zu erklären, müssen wir erneut zu Marx zurückkehren. Marx definiert Kapital als Geld, das mehr Geld schafft. Dies drückt sich in der Formel Geld-Ware-Geld (G-W-G) aus, also kaufen, um zu verkaufen. Im Kapitalismus bedeutet dies eine Erhöhung der Wertmenge durch die Schaffung von Mehrwert. Dieser Mehrwert wird durch die Ausbeutung der Arbeitskraft bei der Arbeit geschaffen. Marx schlägt also G-W-G’ als die allgemeine Formel des Kapitals vor. So bereitet Marx seine Analyse der »verborgenen Stätten der Produktion« vor, in der die technische Zusammensetzung der Arbeiterklasse aufgedeckt werden soll.
Marx schlägt aber auch eine andere Form der Warenzirkulation vor: Verkaufen, um zu kaufen. Dieser Kreislauf hat die Formel Ware-Geld-Ware (W-G-W). Die Arbeiterklasse (die keine andere Ware zu verkaufen hat als ihre eigene Arbeitskraft) verkauft ihre Zeit gegen Lohn, mit dem sie die Waren kauft, die sie zum Leben braucht oder begehrt.
Wenn also G-W-G’ die allgemeine Formel des Kapitals ist, was ist dann W-G-W? Es ist die allgemeine Formel der Reproduktion der Arbeiterklasse. […] Ihren Lohn tauschen die Arbeiter:innen gegen Waren ein, die sie zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft benötigen, die sogenannten Mittel zur Subsistenz oder zum Lebensunterhalt. Diese Waren werden wieder in Arbeitskraft umgewandelt – und dann beginnt der ganze Zyklus von neuem.
Die Warenform ist in der kapitalistischen Gesellschaft dominierend. Wir können die Form ihrer Zirkulation im Rahmen dieser allgemeinen Reproduktionsformel der Arbeiterklasse nutzen, um die sozialen Beziehungen der Arbeiter:innen jenseits der Arbeit abzubilden. […]
Wenn die Arbeiter:innen sich von der Arbeitserfahrung erholen, sind sie ein Rätsel. Nachdem sie ihrer technischen Zusammensetzung entkommen sind, werden sie nur dann in die Analyse der Klassenzusammensetzung einbezogen, wenn sie sich entschließen, politisch zu handeln, anstatt einzukaufen, zu essen, sich zu entspannen oder zu schlafen. Diese Reproduktionstätigkeiten werden nur aus der Perspektive derjenigen verstanden, die sie produzieren, oder ab dem Zeitpunkt, an dem die reproduzierten Arbeiter:innen ihre nächste Schicht antreten. Wir glauben, dass es möglich ist, das Konzept der Klassenzusammensetzung zu aktualisieren, um der Reproduktion Rechnung zu tragen. Dazu soll das Konzept der sozialen Zusammensetzung dienen.
Die soziale Zusammensetzung verbindet sich mit der technischen Zusammensetzung, bevor der Schritt zur politischen Zusammensetzung erfolgt. Die soziale Zusammensetzung ist die spezifische materielle Gestaltung der Arbeiter:innen in einer Klassengesellschaft durch die sozialen Beziehungen von Konsum und Reproduktion. Diese allgemeine Formel der Reproduktion der Arbeiterklasse ermöglicht es uns, die Grenzen zwischen den Formen der Zusammensetzung zu verstehen.
Die soziale Zusammensetzung ist in erster Linie ein Weg, um zu verstehen, wie Konsum und Reproduktion Teil der materiellen Grundlage der politischen Klassenzusammensetzung werden. Dabei geht es um Faktoren wie den Wohnort der Arbeiter:innen und die Art der Unterbringung, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Migrationsmuster, Rassismus, kommunale Infrastruktur usw.
Der Operaismus befasste sich hauptsächlich mit den Arbeiter:innen in der Warenproduktion, deren Arbeitskraft für den Mehrwert ausgebeutet wurde. Die soziale Zusammensetzung ermöglicht es uns, die Logik der Analyse der Klassenzusammensetzung auf die Gesamtheit der Arbeiterklasse auszuweiten. Dazu gehören auch Arbeitslose und Arbeiter:innen, die nicht direkt an der Produktion der kapitalistischen Wertform beteiligt sind. Sowohl die produktiven als auch die unproduktiven Arbeiter:innen sind Mitglieder der gleichen Klasse. Sie alle haben keine Kontrolle über die Produktionsmittel, verkaufen ihre Arbeitskraft, um zu überleben, und arbeiten, um die kapitalistische Gesellschaft zu reproduzieren. Die Klassenzusammensetzung beruht auf dem Standpunkt der Arbeiterklasse zur Arbeit, nicht auf dem Standpunkt des Kapitals zur Produktivität. […]
Unsere Variante des Konzepts der Klassenzusammensetzung versteht den Schritt zur politischen Zusammensetzung sowohl von einer technischen als auch von einer sozialen Basis aus. Der Klassenkampf am Arbeitsplatz ergibt sich aus der Gesamtheit des Lebens der Arbeiterklasse. Der von uns aktualisierte Rahmen trägt diesen Faktoren Rechnung.
Die Klassenzusammensetzung ist eine materielle Beziehung mit drei Aspekten: Der erste ist die Organisation der Arbeitskraft in einer Arbeiterklasse (technische Zusammensetzung), der zweite ist die Organisation der Arbeiterklasse in einer Klassengesellschaft (soziale Zusammensetzung), der dritte ist die Selbstorganisation der Arbeiterklasse in einer Kraft für den Klassenkampf (politische Zusammensetzung).
In allen drei Bereichen ist die Klassenzusammensetzung sowohl Produkt als auch Produzent des Kampfes um die sozialen Beziehungen der kapitalistischen Produktionsweise. Der Übergang zwischen technischer/sozialer und politischer Zusammensetzung vollzieht sich als ein Schritt, der den politischen Standpunkt der Arbeiterklasse definiert. […]
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